Thema des Monats


Lebenslanges Lernen: Die Trendumkehr-Lüge

Wo immer Trends sich verfestigen, lässt die Gegenbewegung meist nicht lang auf sich warten. War der Begriff “Lebenslanges Lernen” in den letzten Jahren in aller Munde, stellte Autor Richard Gris in seinem Buch “Die Weiterbildungslüge” die provokante Antithese auf: Seminare und Trainings bringen nicht nur nichts, Sie können Ihre Karriere ruinieren!


Qualitätssicherung und Eigenverantwortung

Wer genauer hinschaut merkt allerdings schnell, dass die bewusst überspitzte Formulierung lediglich den Blick auf eine durchaus bekannte Herausforderung richten soll. Seminare und Trainings haben nicht ausgedient, doch manches Mal hapert es am Praxistransfer. Goethe bemerkte dazu lange Zeit vor der Entstehung dieses gewichtigen Begriffs “Wir behalten von unseren Studien am Ende doch nur das, was wir praktisch anwenden”. Das ist keine neue Erkenntnis, aber nach wie vor ein Punkt, mit dem sich Seminaranbieter und Teilnehmer gleichermaßen auseinanderzusetzen haben. Denn natürlich führt die bloße Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme nicht per unfehlbarem Automatismus zum ersehnten Karriereschub. Ein seriöser Anbieter wird das auch nicht behaupten, und wer es dennoch tut, will den “Megatrend Weiterbildung” höchstwahrscheinlich ausschließlich nutzen, um daraus Profit zu schlagen. Wer es über den reißerischen Titel hinaus schafft stellt schnell fest, dass Autor Gris nicht nach dem Ende von einschlägigen Maßnahmen ruft, sondern Anbieter und Weiterbildungsteilnehmer gleichermaßen in die Pflicht nimmt: wo erstere Qualitätssicherung gewährleisten sollen, müssen zweitere ihre Transferkompetenz und Eigenverantwortung für die Umsetzung von Gelerntem stärken.


Trend oder Zeitenwende?

Der Begriff “Trend” selbst evoziert das Bild einer kurzlebigen Modeerscheinung, das dem Konzept Lebenslanges Lernen nicht gerecht wird. Weiterbildung ist in diesem Sinn eigentlich kein Trend, sondern eine notwendige und alternativlose Reaktion auf den raschen Wandel von Anforderungen und Aufgaben. Sie ist die Neudefinition traditioneller Rollen in Beruf und Gesellschaft und die Tatsache, dass heute kaum noch jemand von der Ausbildung in einen Job übergeht, der dann bis zum Ruhestand mit einigen absehbaren Beförderungen ausgeübt wird. Im Lauf einer Karriere kommt es heute stattdessen meist mehrfach zu Neuausrichtungen und mitunter auch zu Brüchen. Weiterbildungen mit Lernangeboten dienen in erster Linie dazu, diesen Prozess unterstützend zu begleiten und für den Einzelnen erfolgreich zu gestalten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Lernangebote sind kein “Karriere-Booster”, an deren Ende unfehlbar das höhere Gehalt oder die Führungsposition steht, sondern eines von zahlreichen Elementen in der Ausgestaltung nichtlinearer Berufsbiographien. Lernen ist integraler Bestandteil jedes Berufsbildes und zwar lebenslang.


3xE = Karriereerfolg?

Weiterbildungs-Skeptiker bemühen nach wie vor gern das so genannte 70-20-10-Modell, um die Bedeutung von Lernereignissen und formalem Lernen zu relativieren. Es ist der Versuch, Karriereerfolg in einer “Erfolgsformel” abzubilden. Demnach hänge das Erreichen von Karrierezielen zu 10% vom Ausbildungshintergrund ab, zu 20% von Wechselwirkungen im Berufsalltag (Feedback, Lernen von Kollegen etc.) und zu 70% vom Faktor Erfahrung (kurz: “learning by doing”). Der Ansatz lässt Menschen, die viele Jahre in ihre Ausbildung investiert haben, gern aufschreien: all die Mühe soll gerade mal zehn Prozent an meinem Erfolg ausmachen?


Dem lässt sich einiges entgegensetzen, denn der aus den Achtzigern stammende Ansatz hat gleich mehrere Haken. Erstens kommt ohne fundiertes Wissen niemand in die Position, die beiden anderen Komponenten überhaupt zu erfahren. Allein deshalb darf der 10%-Anteil getrost angezweifelt werden. Zweitens gilt das Modell im Internetzeitalter und des mit ihm einher gehenden beschleunigten Informationsaustausches ohnehin als überholt. Drittens ignoriert es einen vierten Faktor: nämlich ein Arbeits- und Lebensumfeld, das Lernen überhaupt erst möglich werden lässt. Es sind also eher vier große „Es“, die Karriereverläufe prägen: Education (Ausbildung), Exposure (Arbeitsalltag), Experience (Erfahrung) und Environment (Umgebung). Da “Formeln” außerhalb mathematischer Zusammenhänge meist sowieso zu kurz greifen, darf über ihre prozentuale Gewichtung im optimalen Karriere-Mix getrost diskutiert werden, zumal sie bei jeder individuellen Karriere anders ausfallen dürfte.


Der Arbeitgeber als Marke: Slogans reichen nicht

Indem Unternehmen Firmenkultur und Wertesystem in den Vordergrund rücken, sprechen sie Talente an – die allerdings, gut ausgebildet und sensibilisiert für Faktoren wie Führungskultur, Arbeitsatmosphäre und vor allem Work-Life-Balance, im Alltag schnell erkennen, ob es sich bei der meist schon auf der Website deklarierten Unternehmensphilosophie um bloße PR-Slogans handelt oder ob Werte tatsächlich gelebt werden.


Firmen tun also gut daran, ihre Kultur glaubwürdig umzusetzen und “employer branding” nicht auf ein paar Sätze zu Familienfreundlichkeit und firmeneigenem Tennisplatz zu reduzieren. Dabei muss die Frage nach der eigenen Vision und Mission am Anfang stehen. Anreize zur langfristigen Bindung werden letztlich nicht mehr über Business Class-Flüge und Dienstwagen gesetzt, sondern motiv- und personenorientiert über die Gestaltung von Arbeit als zentralem Lebensbereich.


Global, vernetzt, individuell. Der Wandel von Lernbedingungen

Arbeits- und Lebenswelten des postindustriellen, vernetzten und globalisierten Zeitalters erfordern andere “skillsets” und hier vor allem Lern- und Problemlösestrategien als die enger definierten Berufswege früherer Dekaden. Und neue Fähigkeiten werden nun einmal bekanntlich durch Lernen erworben – ob nun im klassischen Lernsettings oder durch Lernen am Modell.


Dabei stellt nicht nur der rasante Anforderungswandel Vermittler von Wissen und Weiterbildungsanbieter vor große Herausforderungen, sondern auch die Tatsache veränderter Lebenswirklichkeiten durch tiefgreifende technologische Umwälzungen. Es ist kein Zufall, dass es die letzten Jahre zu einer zunehmend inflationären Verwendung des Begriffs “Generation” kam. Konnte man in den Achtzigern noch davon ausgehen, dass der fünfzigjährige Mitarbeiter eines Unternehmens ähnliche Lernerfahrungen gemacht hatte wie der dreißigjährige (nur eben 20 Jahre früher), vollzogen sich einschneidende Änderungen danach im Fünfjahrestakt. Menschen, die Lerninhalte per Livevideo, Chat oder Screensharing auf Tablet oder Smartphone abrufen und dabei zeitlich und örtlich flexibel Beruf, Privatleben und Wissenserwerb vermischen, entwickeln nachweislich andere Lernstrategien als Menschen, die ihr gesamtes Repertoire an Wissen und Fähigkeiten im Präsenzunterricht und in der Gruppe erworben haben. Angebote müssen deshalb nicht nur inhaltlich durchdacht sein, sondern auf verschiedenen Lerntypen zugeschnitten werden. Die mediale Ausgestaltung ist dabei noch das geringere Problem – vom klassischen Seminarraum zum Online-Tutorial bedarf es letztlich nur einiger technischer Anpassungen. Viel interessanter wird es bei der Lernpsychologie, denn wo ungewohnte Vermittlungstechniken zusätzlich Ängste schüren, leiden “Lernausbeute” und Praxistransfer erst recht.


Vermittler in der Verantwortung

Weiterbildungsanbieter stellen sich mithin einer erheblichen Verantwortung. Von jeher konnten Lehrende Begeisterung wecken – oder ihren Adressaten das Interesse an einer Materie für alle Zeiten verleiden. Diese Erfahrung dürften die meisten von uns im Schulunterricht gemacht haben. Dazu kommt das atemberaubende Tempo des Wandels von Anforderungen und der Vermehrung von Wissen, gepaart mit immer neuen didaktischen Techniken und resultierenden Herausforderungen hinsichtlich des Praxistransfers von erworbenen Fähigkeiten. Das erfordert psychologisches Fingerspitzengefühl, eigene permanente Lernbereitschaft auf höchstem Niveau und Empathie für mögliche Überforderungen und Berührungsängste.


Seriöse Anbieter stellen sich diesen Anforderungen und sorgen so dafür, dass Training, Workshop & Co. noch lange nicht ausgedient haben. Sie müssen weit mehr sein als nur Vermittler von Inhalten. Als Gestalter von Lernumfeldern und Lernprozessen erfüllen sie das klassische Wort, dass man “Lernen lernen” müsse und ermöglichen so Orientierung im Anforderungsdschungel. Wer auf Qualitätssicherung achtet und eigenverantwortliche Lernfähigkeiten stärkt, kann davon getrost auch künftig profitieren und Buchtitel, die Gegenteiliges behaupten und damit an der Lebens- und Lernwirklichkeit des 21. Jahrhunderts vorbeigehen, mit einer Prise Salz nehmen. Gern auch unter nochmaliger Bemühung des Weimarer Dichterfürsten: “Gewisse Bücher scheinen geschrieben zu sein, nicht damit man daraus lerne, sondern damit man wisse, dass der Verfasser etwas gewusst hat.”


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